Bevor wir uns der Fragestellung des Dehnen im Detail widmen, habe ich eine Gegenfrage an dich:
Was möchtest du mit dem passiven Dehnen eigentlich erreichen?
- Einen Muskel tonisieren?
- Einen Muskel detonisieren?
- Muskeldysbalancen ausgleichen?
- Eine größere Bewegungsamplitude?
- Einen verkürzten Muskel verlängern?
Falls deine Antwort von 1. bis 4. reicht (oder irgendwo zwischen den Antwortmöglichkeiten liegt), dann stell den Bildschirm scharf und lies aufmerksam. Falls deine Antwort jedoch auf 5. fällt, dann lege bitte erst das Märchenbuch weg, bevor du anfängst mit lesen. Denn:
Die strukturelle Länge eines Muskels per se ist immer gleich, denn eine Veränderung der Anzahl und Länge der Sarkomere in Serienschaltung konnte in vivo beim Menschen bisher nicht nachgewiesen werden.1
Dr. Kurt Moosburger
Dehnen Ja oder Nein? Die unendliche Geschichte…
Kennst du das auch?
Im Laufe meiner Sportlerkarriere – vom Fußball über den Laufsport bis hin zum Krafttraining – bin ich immer wieder gegensätzlichen Meinungen über das Dehnen begegnet. Man hat dann halt immer das gemacht, was der aktuelle Trainer einem abverlangt.
Allerdings hat mir irgendwann das Argument, dass es bei so vielen unterschiedlichen Meinungen eh keine exakte Antwort gäbe, nicht mehr ausgereicht. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach wissenschaftlichen Antworten gemacht.
Damit du verstehst, wie ich zu meiner eigenen Meinung gekommen bin, schauen wir uns nun gemeinsam die theoretischen Grundlagen an:
Die Muskelkontraktion
Wenn du aus dem Kraftsportbereich kommst, dann hast du sicherlich schon mal von den drei verschiedenen Kontraktionsarten gehört. Schauen wir uns das zum besseren Verständnis am Beispiel des Bizepscurls an:
- Konzentrische Kontraktion: Der Arm wird gebeugt, die Hand bewegt sich Richtung Schulter. Der Zielmuskel verkürzt sich und erhöht seine Spannung.
- Isometrische Kontraktion: Am obersten Punkt angekommen, spannst du bewusst den Bizeps ein kleines Stückchen mehr an. Der Zielmuskel verändert seine Länge nicht, erhöht aber seine Spannung.
- Exzentrische Kontraktion: Der Arm wird langsam in die Ausgansposition herabgelassen. Der Widerstand ist größer als die Spannung im Zielmuskel, weshalb er sich verlängert. Er bremst quasi das Gewicht ab.
Wenn du aufmerksam gelesen hast, dann müsste dir beim Lesen dieses Beispiels wieder das Zitat von Dr. Moosburger eingefallen sein. Er ist nämlich der Meinung, dass sich die Länge des Muskels nicht verändern kann. Das ist doch jetzt ein Widerspruch oder? Um das zu erklären, schauen wir uns gemeinsam die physiologischen Vorgänge im Muskel anhand der Gleitfilamenttheorie von Hugh Huxley und Jean Hanson an.
Ab jetzt wird es theoretisch! Du kannst gerne zur ersten Zusammenfassung des theoretischen Abschnitts springen, oder gleich die Fakten unter »Dehnen auf fünf Punkte reduziert« durchstöbern. Aber ich empfehle dir natürlich es komplett zu lesen! Ist nicht so schwer. 😉
Die Gleitfilamenttheorie von Huxley und Hanson
Zerlegen wir zunächst erstmal deine quergestreifte Skelettmuskulatur in seine Einzelteile:
Jeder Skelettmuskel besteht aus unzähligen Muskelfaserbündeln. Und jedes Muskelfaserbündel setzt sich aus ganz vielen Muskelfasern bzw. Muskelzellen zusammen. Diese Muskelzellen enthalten wiederum bis zu hunderte von Myofibrillen, in denen die Verkürzung bzw. die Kontraktion des Muskels stattfindet.
Du ahnst es sicher schon… Die Myofibrille ist nicht die kleinste Einheit im Muskel. Jede Myofibrille besteht nämlich aus Hunderten hintereinander gereihten Sarkomeren, welche aus fadenförmigen Proteinfasern – den sog. Filamenten – besteht. Diese Filamente sind die kleinsten an der Muskelkontraktion beteiligten Strukturen, weshalb wir uns nur mit dem Sarkomer und dessen Filamente beschäftigen müssen.
In folgender Grafik siehst du ein Sarkomer im entspannten Muskelzustand:
Aufbau eines Sarkomers
In der Myofibrille werden die hintereinandergeschalteten Sarkomere durch Z-Scheiben (auch Zwischen-Scheiben) getrennt. Halbiert wird das Sarkomer durch die sogenannte M-Scheibe (auch Mittel-Scheibe). Die eigentliche Kontraktion und damit die Verkürzung deines Muskels, beruht lediglich auf einer Art Wechselwirkung zwischen den Proteinfilamenten Myosin und Aktin.
Die Kontraktion des Muskels ist eigentlich nur eine Verkürzung seiner Sarkomere
Schau dir mal das Myosin in der obigen Grafik an.
Siehst du die kleinen Köpfchen in 90° Stellung, welche in Richtung Aktin ragen? Sie sehen aus wie die Paddel eine Rudermannschaft, nicht wahr? Und genauso kannst du dir die Kontraktion vorstellen! Mit Hilfe einer chemischen Reaktion verankern sich diese Köpfchen mit dem Aktin (sog. »Querbrückenverbindung«) und klappen dann auf einen Winkel von 45° um (sog. »Kraftschlag«). Ganz so, als würde eine Rudermannschaft die Paddel ins Wasser stechen und einen Ruderschlag ausführen.
Dabei verändern sich die Längen der Aktin oder Myosinfilamente nicht. Sie gleiten lediglich ineinander, wodurch sich die Z-Scheiben einander annähern und sich das Sarkomer verkürzt. Sobald sich dein Muskel jedoch wieder entspannt, werden die Querbrückenverbindungen gelöst und die Sarkomere nehmen ihre Ausgangslänge wieder ein.
Wozu dient jetzt das rot gezeichnete Titin fragst du dich?
Vor einigen Jahren konnte die Heidelberger Arbeitsgruppe um Dr. Wolfgang Linke nachweisen, dass die Titinfilamente nicht nur mit dem Myosin, sondern auch mit dem Aktin verbunden sind, ohne dessen Ineinandergleiten zu behindern. Warum das Ganze? Um das Sarkomer bei Dehnung zusammenzuhalten.2
Da du nun den Kontraktionsmechanismus in etwa kennst, erinnere dich nochmal an das eingangs erwähnte Zitat von Dr. Moosburger zurück:
Die strukturelle Länge eines Muskels per se ist immer gleich, denn eine Veränderung der Anzahl und Länge der Sarkomere in Serienschaltung konnte in vivo beim Menschen bisher nicht nachgewiesen werden.3
— Dr. Kurt Moosburger
Da du nun die Gleitfilamenttheorie kennst, scheint die Aussage von Dr. Moosburger gar nicht mehr so widersprüchlich. Denn sobald der Muskel entspannt, werden die Querbrückenverbindungen gelöst und alle Sarkomere nehmen ihre Ausgangslänge wieder ein. Damit ist der Muskel nach einer Kontraktion genauso lang wie vorher.
Was hat die Muskelkontraktion mit dem Dehnen zu tun?
Du fragst dich sicherlich schon die ganze Zeit, warum ich überhaupt über die Muskelkontraktion spreche. Schließlich wollen die meisten Athleten mit dem Dehnen das Gegenteil bewirken. Sie wollen den Muskel dekontrahieren, entspannen oder auch detonisieren.
Doch funktioniert das überhaupt?
Um diese Frage beantworten zu können, muss dir zunächst klar werden, dass ein Muskel sich nicht selber kontrahieren kann. Und demnach auch nicht selber entspannen kann. Ich habe es oben schon beim Aufbau der Querbrückenverbindung erwähnt:
Für die Kontraktion des Muskels sind chemische Reaktionen vonnöten.
Und diese chemischen Reaktionen werden von deinem zentralen Nervensystem (kurz: ZNS) gesteuert. Damit dein ZNS jedoch weiß, was in deinen einzelnen Muskeln überhaupt Phase ist, erhält es ständig Informationen von den sogenannten Muskelspindeln.
Die Muskelspindel ist Schuld daran, dass dein Muskel beim stretchen nicht entspannen kann.
Die Muskelspindel ist ein Propriozeptor deines Körpers und versorgt dein ZNS mit Informationen über den Längenzustand des Muskels.
Wird nun der Muskel gedehnt, so dehnt sich auch die Muskelspindel, welche daraufhin über Nervenfasern ein Signal auf eine Nervenzelle im Rückenmark überträgt, die dann die Kontraktion der Skelettmuskelfaser bewirkt: Das Alpha-Motoneuron. Das zuständige Alpha-Motoneuron ist es also, was deinen Muskel kontrahieren lassen kann!
Was hat nun die Muskelkontraktion mit dem Dehnen zu tun?
Ganz einfach: Damit dein Muskel nicht überdehnt oder gar auseinandergerissen wird, löst das System um die Muskelspindel und dem Alpha-Motoneuron den »Dehnungsreflex« (wobei ich persönlich »Dehnschutzreflex« passender finde) aus. Jede Dehnung eines Muskels geht also mit einer reflexartigen Kontraktion desselben einher. Zum Schutz.
Kurze Zusammenfassung
Die kleinste funktionelle Einheit bei der Muskelkontraktion bildet ein Sarkomer. In diesem Sarkomer befinden sich kleine Proteinfäden – die sogenannten Filamente – welche das Sarkomer und damit den Muskel bei einer Kontraktion verkürzen. Die Kontraktion selbst beruht auf dem Ineinandergleiten zweier Filamente, und zwar dem Aktin und dem Myosin. Damit du beim Dehnen, oder beim Auftreten eines plötzlich ruckartigen Widerstands nicht die Sarkomere und damit deinen Muskel auseinanderreißt, besitzt dein Körper einen Schutzreflex – der sogenannte Dehnungsreflex. Dieser wird reflexartig innerhalb deines zentralen Nervensystems von motorischen Nervenzellen, den Alpha-Motoneuronen, ausgelöst.
Lässt sich ein Muskel überhaupt dehnen?
Du weißt nun, dass ein Muskel kontrahiert, sobald er gedehnt wird. Das würde doch aber bedeuten, dass er sich überhaupt nicht Dehnen lässt!?
Ein Muskel lässt sich dehnen. Der Dehnungsreflex scheint nur einen maßgebliche Wirkung zu behindern. Darüber hinaus scheinen physiologisch gesehen das statische und dynamische Dehnen nicht die oft erwünschte dekontrahierende/detonisierende Wirkung zu haben, sondern als würden sie genau das Gegenteil bewirken. Schauen wir uns dazu einmal den Kraftschlag der Myosinköpfchen im Detail an:
- Bei einem entspannten Muskel sind an das Myosinköpfchen ADP (Adenosindiphosphat) und ein Phosphatrest Pi gebunden. Darüber hinaus wird das Aktinfilament durch sogenannte Tropomyosinfäden blockiert. Myosin kann in diesem Zustand also nicht an Aktin andocken.
- Der Impuls vom Alpha-Motoneuron bewirkt die Ausschüttung von Calcium (Ca²+). Dieses bindet an Troponin, welches sich an den Tropomyosinfäden befindet. Dadurch wird das Aktin freigelegt und das Myosin kann so mit diesem die Querbrückenverbindung eingehen.
- Im nächsten Schritt werden die am Myosinköpfchen befindlichen Moleküle Pi und ADP nacheinander freigegeben. Die freiwerdende Energie lässt die Myosinköpfchen auf einen 45°-Winkel umkippen, wodurch die Aktinfilamente zur Sarkomermitte gezogen werden. Dies ist der besagte Kraftschlag.
- Sobald sich neues ATP an das Myosin anlagert, löst sich das Myosinköpfchen vom Aktinfilament. Bekommt das Sarkomer vom Alpha-Motoneuron kein neues Kontraktionssignal, wird das im Sarkomer befindliche Calcium abgepumpt und die Tropomyosinfäden blockieren wieder die Verbindungsstellen des Aktin. Das ATP wiederum wird am Myosinkopf hydrolitisch zu ADP und Pi gespalten, wodurch das Köpfchen wieder zurückklappt und entspannt (und der Zyklus beginnt von vorne).4
Übertragen wir nun das neue Wissen auf das Dehnen:
Im Klartext: Was passiert mit meinem Muskel, wenn ich ihn dehne?
Vereinfacht gesagt: Der Dehnungsreflex setzt ein und dein Muskel kontrahiert.
Dabei wird ADP und ein Phosphatrest verbraucht. Um die Querbrücken bzw. die Kontraktion wieder lösen zu können, benötigt der Muskel wieder Energie (ATP), welches sich an die Myosinköpfchen bindet. Wenn allerdings zu wenig ATP vorhanden ist, können sich die Querbrücken auch nicht lösen (so wie bei der Totenstarre). Wenn du nun weiter dehnst, kontrahiert dein Muskel und verbraucht wieder Energie.
Nun stell dir mal vor du hast mit deinem Training schon sämtliche Energiereserven ausgeschöpft und möchtest dann noch Dehnen… Nun wird auch klar, dass dies eigentlich sinnlos und kontraproduktiv ist! Außerdem gibt es bei der Muskelentspannung noch einen weiteren Schritt, von dem ich dir noch nicht erzählt habe: Damit die Tropomyosinfäden wieder das Aktin blockieren und somit das Myosin nicht an dieses binden kann, muss auch das Calcium abgepumpt werden. Und das kostet auch wieder Energie. Ein Teufelskreis!
Schlussfolgerung
Mit dem Dehnen lockerst du also deinen Muskel nicht. Vielmehr verbrauchst du dabei Energie und machst deinen Muskel dadurch umso härter.
Wenn dehnen nichts bringt, wieso sind dann z. B. Gymnastiksportler oder Turner so beweglich?
Generell gilt: Die Beweglichkeit des Menschen hängt nicht nur von der Dehnbarkeit seiner Muskulatur ab.
Beim Beweglichkeitstraining geht es darum, die Muskeln und Sehnen an einen hohen Bewegungsradius zu gewöhnen. Dazu gehört zwar auch das Dehnen, aber das Üben von Bewegungen innerhalb eines großen Bewegungsradius spielt eine zentralere Rolle.
Auf den Alltag übertragen kannst du daraus folgendes mitnehmen:
Beweglichkeit im Alltag
Je größer der Bewegungsradius deiner alltäglichen Bewegungen ist, desto beweglicher wirst du. Führe also alle täglichen Bewegungen mit einem größtmöglichen Bewegungsradius aus. Beuge und Strecke deine Gelenke, so wie sie es von Natur aus zulassen. Überspringe z. B. beim Treppensteigen ruhig mal ein- bis zwei Stufen und strecke deine Arme öfter mit größtmöglichem Radius aus. Da darf es auch ruhig mal in der Brustmuskulatur ziehen!
Vor allem statische Tätigkeiten (wie Sitzen am Bürotisch) sind die Übeltäter, wenn es um schlechte Beweglichkeit geht. Wie du nun weißt verkürzen sich die Muskeln zwar nicht, allerdings passt sich der Bewegungsapparat an die kleinen Bewegungsradien an. Der menschliche Körper ist eben ziemlich fauler Natur…
Dehnen auf fünf Punkte reduziert:
1. Was bewirkt Dehnen physiologisch betrachtet in meiner Muskulatur?
- Es tonisiert die Muskulatur
- Es ermüdet die Muskulatur
2. Was bewirkt Dehnen nicht?
- Verletzungen vorbeugen5
- Verkürzungen korrigieren6
- Muskuläre Dysbalancen aufheben7
- Muskelkater verhindern (es begünstigt ihn sogar noch)8
Übertragen wir das nun angesammelte Wissen auf die Praxis:
3. Wann sollte ich nicht dehnen?
- Vor einem hartem Krafttraining
- Vor einem anstehenden Wettkampf, bei dem Explosivkräfte benötigt werden (z. B. Sprinten, Springen, Gewichtheben).
- Nach einer kräftezehrenden Trainingseinheit: Kontraktionsrückstände (Querbrückenverbindungen) können aufgrund des Energiemangels nicht gelöst werden. Der Zug auf den Muskel nach erschöpfendem Training erhöht eher die Gefahr eines Muskelkaters.
- Wenn ich eher zur Hypermobilität neige. Gerade Frauen sind oft betroffen. (Hypermobilität mit Hilfe des »Beighton Score« errechnen)
4. Gibt es überhaupt einen Grund mich zu dehnen?
Generell gilt: Wenn du keine Bewegungseinschränkungen im Alltag oder im Sport hast, dann musst du dich auch nicht Dehnen. Der Functional Movement Screen (FMS) kann Aufschluss darüber geben, ob Einschränkungen bestehen oder es bei bestimmten Tätigkeiten zu Ausweichbewegungen kommt.
Dennoch gibt es einige Sportarten wie Kickboxen oder Turnen, bei denen die erhöhte Beweglichkeit eine zentrale Rolle spielt. In Kombination mit einem gezielten Beweglichkeitstraining, können hier sehr gute Ergebnisse erzielt werden. (Dazu wird in den kommenden Wochen ein weiterer Artikel folgen. Abonniere am besten jetzt unseren Newsletter und du erfährst als erstes, wenn der Artikel live geht).
Gerade Sportarten, bei denen die Maximalkraft keine Rolle spielt, sondern eine adäquate Beherrschung des Körpers in sehr großen Bewegungsradien (z. B. Ballett) gefordert wird, ist das Dehnen elementarer Bestandteil der Aufwärmung vor dem Sport.
Kraftsportler, die ihre Beweglichkeit mit Dehnen verbessern möchten, sollten dem Stretching einen extra Tag in ihrem Trainingsplan einräumen. Vor dem Training schwächt es unnötig die Muskulatur und nach dem Training verstärkt es unnötig Muskelkater.
5. Muss ich mich auf das Dehnen vorbereiten?
Dehne dich in einer warmen Umgebung und wärme dich auf. Bei aufgewärmten und gut durchbluteten Muskeln setzt der »Dehnschutzreflex« erst später ein. Eine Auflockerung des ganzen Körpers mit Lockerungsübungen und durch »Ausrollen« der Muskeln mit Hilfe einer Faszienrolle, verbessern ebenso die Dehnbarkeit.
Fazit
Dass Stretching aus Sportarten, bei denen es zum elementaren Bestand gehört, nicht wegzudenken ist, sollte klar sein.
Dennoch hat es oft nicht den Effekt, den sich die meisten Trainierenden erhoffen. Gerade im Hobbylaufsport beobachte ich oft, wie sich die Läufer vor und nach dem Sport stretchen (manchmal sogar auch während der Einheit). Dass dies fast immer kontraproduktiv ist, den Muskel nur noch mehr ermüdet und tonisiert, zeigen meine Ausführungen. Für die längerfristige Beweglichkeitsteigerung bieten sich separate Stretching-Tage sowie gezieltes Beweglichkeitstraining besser an (Dazu kannst du mehr in einem folgenden Artikel lesen).
Athleten bei denen sportartspezifisch eine hohe Mobilität kontraproduktiv ist sowie hypermobile Personen sollten genau abwägen, ob Stretching zielführend ist. Im Alltag ist häufiges Bewegen in den für die Gelenke vorgesehenen Bewegungsradien definitiv bequemer einzubauen, als separate Stretchingeinheiten.
Nichts desto trotz kann Stretching langfristig gesehen (à la Zweckgymnastik) das subjektive Wohlbefinden sowie die Beweglichkeit fördern. Bei Muskeldysbalancen sollte das Dehnen allerdings nur begleitend eingesetzt werden, da die Probleme in 99% der Fälle nicht bei dem (fälschlicherweise bezeichneten) »verkürzten Muskel« zu suchen sind.
Jetzt bist du gefragt (sei ehrlich!): Wann hast du dich bisher immer gedehnt? Was sind deine Erfahrungen damit? Beim Thema Dehnen ist auch in der Wissenschaft noch nicht das letzte Wort gesprochen worden, weshalb Erfahrungswerte Platin wert sind! Lass mir jetzt einen Kommentar da. 🙂
Sportliche Grüße und bis zum nächsten mal
Dein Norman
- Moosburger, K. A., Was ist dran am Dehnen? Mythen und Fakten., moo, 2002, S. 2. ↩
- Vgl. Linke W., Faszinierendes Riesenmolekül, Ruperto Carola, 1/2000. ↩
- Moosburger, K. A., Was ist dran am Dehnen? Mythen und Fakten., moo, 2002, S. 2. ↩
- Vgl. Brenner B., Muskulatur, in: Klinke R. et al. (Hrsg.), Physiologie, 6. Auflage, 2010, S. 98ff. ↩
- Vgl. Moosburger, K. A., Was ist dran am Dehnen? Mythen und Fakten., moo, 2002, S. 2. ↩
- Vgl. Ebd. ↩
- Vgl. Ebd., S. 2-4. ↩
- Vgl. Ebd., S. 1. ↩
Richard Stober
Hallo Norman,
danke für diese ausführliche Seite. Du erklärst hier dieses Thema sehr gut verständlich. Ich habe mich vor vielen Jahren schon von Christoph Anrich überzeugen lassen, dass sich ein Muskel nicht dehnen läßt. Als Karateka habe ich damals noch locker einen Spagat hingelegt. Anrich hat mir erklärt, warum ich es kann und ein Muskel sich trotzdem nicht dehnen lässt. Mittlerweile kenne ich auch schon lange Dr. Moosburger’s Seite. Seine Publikationen sind sehr ausführlich, aber nicht so gut verständlich. Verkürzungen ist durch Krafttraining gut beizukommen, aber nur wenn beim Training der Muskel in seiner gesamten Länge trainiert wird. (Hast du sehr verständlich veröffentlicht) Meiner Kentniss nach spielt auch die Schmerzgewöhnung eine große Rolle und die Sehnen werden geringfügig länger (dadurch natürlich dünner und verletzungsanfälliger). Da bei den meisten Menschen Innovation ein Fremdwort zu sein scheint, wird es nochmal 35 Jahre dauern bis diese Erkentnisse flächendeckend umgesetzt werden. (Ich glaube etwa 1978 wurde Titin von einem Japaner entdeckt)
Mit sportlichen Grüßen: Richard
Norman Höhne
Grüß dich Richard,
Vielen Dank für das Feedback! Es tut gut zu hören, dass ich dieses Thema doch irgendwie verständlich darlegen konnte. 🙂
Herr Anrich ist mir bis heute noch gar nicht bekannt gewesen. Danke für den Tipp! Ich werde mich mal mit seinen Veröffentlichungen auseinandersetzen.
Diese Meinung teile ich mit dir. Ich denke auch, dass die Schmerztoleranz beim Dehnfortschritt eine entscheidende Rolle spielt und auch der Sehnenapparat zur Beweglichkeit beiträgt. Welche negativen Auswirkungen das haben kann, hast du ja bereits dargelegt. 😉
Nichts desto trotz kommt in nicht allzu ferner Zukunft noch ein weiterer Artikel zum Dehnen. Vielleicht sogar schon mit Hilfe des Wissens von Herrn Anrich!
Mit der Innovation ist es immer so eine Sache: Es wurden schon viele Innovationen entwickelt, die sich später als gefährlich oder nutzlos herausgestellt haben. Aber ich weiß worauf du hinaus möchtest. Ich habe auch das Gefühl, dass sich vor allem in Deutschland sportwissenschaftliche Erkenntnisse erst sehr spät in der Praxis etablieren.
Sportliche Grüße
Norman
P.S.: Von wem Titin entdeckt wurde weiß ich nicht. 😉
Wolfgang Hollinger
Hallo Norman,
super, dass ich deine Seite gefunden habe.
Ich habe in den 80-er Jahren Sport studiert und habe das ganze Auf- und Ab von halb- und vollwissenschhaftlichen Erkenntnissen und Lehrmethoden miterlebt. Sinnloses Gymnastik- und Ausdauer-Training, Ernährungsmythen wie Nudeldiät, usw., und natürlich auch Dehnen als Alheilmittel.
Ich war aufgrund von jahrelangen Schmerzen bei den prominesten Sportmedizinern und Therapeuten in Behandlung und zuletzt bei einem super ausgebildeten Physio-Schmerztherapeuten, der mir eine völlig sinnlose Dehnung der großen Rückenmuskulatur inkl. der Knochenhaut verordnet hat, was zur Folge hatte, dass die Schmerzen nur noch schlimmer geworden sind und mich fast irre gemacht haben.
Seit einiger Zeit suche ich nun nach Alternativen zur gängigen Allgemein-Meinung und habe sowohl Heilfasten als Therapie als auch viele neue Fitness/Gymnastik-Empfehlungen entdeckt, die mir zum ersten Mal wirklich weiterhelfen.
Ich kann deine Ausführungen nur bestätigen und aus eigener Erfahrung sagen, dass Dehnen völlig überschätzt wird und zumeist sinnnlos eingesetzt wird.
Viele Grüße,
Wolfgang
Norman Höhne
Hey Wolfgang,
Vielen Dank für dein Feedback! Eine Bestätigung zu lesen tut immer, vor allem wenn sie von einem studierten Sportler wie dir kommt! 🙂
Deine Odysee tut mir leid, aber auch ich bin vor Verletzungen nicht gefeit und nicht selten auf der Suche nach der Lösung. Deshalb kann ich in etwas nachvollziehen, was du durchgemacht hast.
Bezüglich der Dehnung möchte ich noch etwas Anmerken: Wenn man schon verletzt ist, ist es immer ein zweischneidiges Schwert. Klar, oft ist man nach der Verletzung in der Beweglichkeit eingeschränkt. Dennoch kann durch zu starke exogene Einwirkungen die entsprechende Struktur weiter gereizt werden. So wird quasi Benzin ins Feuer geschüttet!
Viele Grüße
Norman
Alexander.Beyfuss
Hallo Norman,
Ich hab mal eine Frage: Vor drei Monaten hatte ich (16) meine Kreuzband-OP am linken Knie und bin nun dabei, wieder „fit“ zu werden. Jedoch hat mich das mit dem Dehnen jetzt etwas verwirrt, vor allem beim Fußball ist es doch sinnvoll, sich zu dehnen oder nicht? 🙂
Norman Höhne
Grüß dich Alexander,
Schön von dir zu hören! Das tut mir leid mit deinem Kreuzbandriss, vor allem in so jungen Jahren. Falls du Tipps zur Kreuzbandreha suchst, solltest du ein wenig auf unserer Seite stöbern und auch Kontakt mit Christina aufnehmen. Die ist da unser Spezialist.
Die Antwort auf deine Frage lautet: Ja und Nein.
Um es dir besser zu erklären möchte ich auf zwei Aspekte beim Dehnen eingehen:
Der zeitliche Aspekt: In meinen Ausführungen oben habe ich ja schon dargelegt, dass Dehnen vor und nach dem Sport wenig bringt, bzw. sogar kontraproduktiv ist. Zum einen verliert man durch Dehnen vor dem Sport die Explosivkraft und ermüdet zudem die Muskulatur unnötig vor. Nach dem Sport erhöhst du die Gefahr die Strukturen, welche durch dem Sport schon in Mitleidenschaft gezogen wurden, weiter zu reizen und zu „zerstören“. Demnach solltest du das Dehnen zwischen die Trainingstage verlegen – auch wenn 98% der Fußballtrainer da draußen es anders machen.
Die Wirkung: Dehnen kann langfristig dazu eingesetzt werden, die Mobilität (oder auch „Range of Motion“ – ROM) in den Gelenken zu erhöhen. Wodurch die Mobilität eingeschränkt wird, sei erstmal dahingestellt. Jetzt stellt sich bei dir die Frage, ob du überhaupt mehr Mobilität benötigst?! Zu viel Mobilität kann ebenfalls wie zu wenig Mobilität zu Verletzungen führen.
Um dir das an einem Beispiel zu verdeutlichen bediene ich mich mal des Schultergelenks:
Zu große ROM der Schulter: Das Schultergelenk ist anatomisch das beweglichste Gelenk in deinem Körper. Kein anderes Gelenk erzielt eine so gewaltige ROM wie die Schulter. Nun sind manche Menschen von Haus aus Hypermobil, weil ihre Sehnen und Bänder genetisch bedingt „Lachs“ sind. Andere wiederum haben vielleicht durch Stretching eine extrem hohe passive Dehnfähigkeit der Schultermuskulatur erreicht. Wird ein solcher Spieler auf dem Feld zu Boden getackelt, stolpert ungünstig über den Ball oder fällt sonst irgendwie ungünstig zu Boden begünstigt sein zu bewegliches Gelenk das Auskugeln des Schultergelenks, weil die Muskulatur ab einer bestimmten ROM-Grenze einfach nichtmehr arbeiten und damit Schützen kann.
Zu geringe ROM der Schulter: Was kann passieren wenn die Schultern zu unbeweglich sind? Der Rücken rollt sich ein (Rundrücken), daraufhin kippt das Becken nach vorne (Hohlkreuz), die Beine tendieren langsam zur X-Bein-Stellung und *schwupps-die-wupps* existiert ein neuen Prädikator für eine Kreuzband(re-)ruptur!
Deshalb ist das Dehnen so sportartspezifisch: Unbeweglichkeit büßt immer Leistung ein und erhöht die Verletzungsrate. Aber du solltest auf keinen Fall beweglicher sein als für deinen Sport nötig. Andernfalls steigt wieder die Verletzungsgefahr.
Schonmal eine gute Genesung!
Bleib dran am Ball,
Norman
Stefan
Hallo Norman,
schön dass zu lesen,
als aktiver Fußballspieler, hatte ich es immer gehasst die Dehnübungen und mich „durchgemogelt“. Als Trainer hab ich bisher meinen Jugendmannschaften nie Dehnübung gezeigt, bzw. machen lassen. War schon immer ein Bauchgefühl, dass Dehnen nichts bringt. Und in der Ausbildung waren die Aussagen auch sehr widersprüchlich, von daher lasse ich es lieber.
Jetzt bekomme ich von dir fundiertes Wissen und eine Bestätigung „alles“ richtig gemacht zu haben.
Die Muskelverletzungen haben auch immer nur die Spieler bekommen die sich übermäßig viel und lang gedehnt haben, ihr Umkehrschluss war nach der Verletzung, „da hab ich mich zu wenig gedehnt“. Das war dann natürlich ein ewiger Kreislauf.
Thx
Stefan
Norman Höhne
Hey Stefan,
Großartiges Feedback von dir als Trainer! Dass Dehnen nichts bringt, würde ich aber nicht unterschreiben. Ich versuche in den nächsten Wochen nochmal einen Folgeartikel zu veröffentlichen, bei dem ich konkrete Anwendungsfälle aufgreife, bei (Achtung Wortspiel) denen das Dehnen eine sinnvolle Anwendung findet.
Einen sportlichen Gruß
Norman
Claudia
Hallo.
Das alles zu lesen wirft irgendwie mein ganzes Denken um. Ich war Gelegenheitsläufer und hatte dann mit Trainingsplan gesteigert. Die Folge war, dass ich nach 2 Wochen aufgeben musste, wegen starken Fersenschmerzen. Resultat: Schleimbeutelentzündung mind rechts. Bin 1 Jahr mit der Sache rumgelaufen. Konnte kaum noch Schuhe tragen die ich wollte. Mit dem joggen wieder begonnen. Und immer die Fersen gemerkt. Dann wieder Schleimbeutelentzündung. Die Physio stellte dann endlich fest, das die Fersen komplett fest waren. Weil einfach die ganze Achillessehnen/Waden/Fussmuskulatur wie ein Flitzebogen gespannt war. Durch Dehnübungen haben ich endlich nach 4 Monaten fast Ruhe. Die Muskulatur will aber immer noch gerne fest gehen. So nu meine Frage. IS DAS DANN ALLES QUATSCH?
Auch im Hinblick auf Rückenübungen. Wo ich momentan Probleme habe. Auch weil sich mein kompletter Körper nach der Wadenveränderung umgestellt hat. Und Mobilisation is doch auch dehnen. Oder?
Norman Höhne
Hallo Claudia,
entschuldige die späte Antwort, bei uns gab es in letzter Zeit viel zu tun in Bezug auf unsere Studie.
Wenn die Muskulatur ständig fest geht, solltest du dich fragen woher das kommt. Die Ursachen können vielfältig sein:
All diese Faktoren können für feste Muskeln sorgen. Der Ausgleich deiner muskulären Defizite kann z. B. als Mobilitätstraining gesehen werden, während das Dehnen nur die passive Mobilität / Dehnfähigkeit deiner Muskeln forciert.
Wenn z. B. der Antagonist eines Muskels (im Falle deiner Wadenmuskulatur könnte das der tibialis anterior sein) zu schwach ist, ist er auch neuromuskulär nicht mehr dazu in der Lage die Spannung der Wade herabzusetzen. Das Kräfteungleichgewicht bedeutet neuromuskulär, dass der schwächere Muskel / der Muskel mit dem geringeren Tonus gehemmt ist. Du siehst es kann komplex sein, weswegen es sich lohnt, einen Blick auf die alle muskulären Mitspieler und Gegenspieler zu werfen.
Deswegen ist es nicht verkehrt dir einen guten Trainer oder Physiotherapeuten zu suchen, der einen Blick auf deine Defizite, generelle Statik und Bewegungsabläufe wirft.
Sportliche Grüße
Norman
Stefan Tiez
Norman,
danke für den tollen Artikel bzgl. der Verkrampfungen.
Leider fehlt in deinem Satz: „Durch das Kräfteungleichgewicht wird der Tibialis anterior….“ das Ende gerade da wo es spannend wird.
In manchen Fällen sollte bestimmt ein Orthopäde konsultiert werden.
LG
Stef
Norman Höhne
Hey Stefan,
Danke dir vielmals für die Anmerkung! Da ist mir wohl beim Verfassen des Kommentars ein Fehler unterlaufen. Ich habe den Satz nun nochmal überarbeitet.
Jepp, eine medizinische Abklärung sollte man auf jeden Fall vornehmen! Das ist immer der erste Weg zur Abklärung. Betroffene sollten sich jedoch von dem Gedanken lösen, dass Orthopäden die Leistungen einer umfassenden biomechanischen und muskelphysiologischen Befundung mit anschließender Therapie-/Trainingsanleitung vornehmen. Deshalb verweise ich gerne auf Therapeuten und Trainer.
Sportliche Grüße
Norman
Dajana
Das mit dem „Dehnen“ und „Verkürzungen“ – wirklich eine unendliche Geschichte, Danke für eure Gedanken hierzu!
Steffi
Super interessant, danke für den tollen Beitrag. LG Steffi